Am 9. November gegen 8.30 Uhr erwacht Michal Kosinski in Zürich im Hotel Sunnehus. Der 34-jährige Forscher ist für einen Vortrag am Risikocenter der ETH angereist, zu einer Tagung über die Gefahren von Big Data und des sogenannten digitalen Umsturzes. Solche Vorträge hält Kosinski ständig, überall auf der Welt. Er ist ein führender Experte für Psychometrik, einen datengetriebenen Nebenzweig der Psychologie. Als er an diesem Morgen den Fernseher einschaltet, sieht er, dass die Bombe geplatzt ist: Entgegen den Hochrechnungen aller führenden Statistiker ist Donald J. Trump gewählt worden.
Lange betrachtet Kosinski Trumps Jubelfeier und die Wahlergebnisse der einzelnen Bundesstaaten. Er ahnt, dass das Ergebnis etwas mit seiner Forschung zu tun haben könnte. Dann atmet er tief durch und schaltet den Fernseher aus.
Am gleichen Tag versendet eine bis dahin kaum bekannte britische Firma mit Sitz in London eine Pressemitteilung: «Wir sind begeistert, dass unser revolutionärer Ansatz der datengetriebenen Kommunikation einen derart grundlegenden Beitrag zum Sieg für Donald Trump leistet», wird ein Alexander James Ashburner Nix zitiert. Nix ist Brite, 41 Jahre alt und CEO von Cambridge Analytica. Er tritt stets im Massanzug und mit Designerbrille auf, die leicht gewellten blonden Haare nach hinten gekämmt.
Der nachdenkliche Kosinski, der gestriegelte Nix, der breit grinsende Trump – einer hat den digitalen Umsturz ermöglicht, einer hat ihn vollführt, einer davon profitiert.
Big Data bedeutet, dass alles was wir im Internet tun, Spuren hinterlässt. Auch wenn wir kein Internetbanking betreiben. Aber zB jedes "Like" bei Facebook. Und wer diese Informationen abschöpft, kann sich ein ziemlich genaues Bild von jedem User machen.
Wenn bisher eine Falschmeldung über einen zur Wahl stehenden Politiker herauskam, musste das über die Presse geschehen, und die dafür verantwortliche Zeitung lief Gefahr, eine Gegendarstellung liefern zu müssen. Dieses Risiko entfällt in sozialen Medien. Zum einen ist der Sender oft nicht identifizierbar, zum andern kriegt der der/die Verleumdete meistens gar nix mit, sondern nur die, die für diese Meldung empfänglich sind oder in ihrer Meinung noch schwanken - denn jemand anderes bekommt diese Nachricht gar nicht.
Psychometrie, manchmal auch Psychografie genannt, ist der wissenschaftliche Versuch, die Persönlichkeit eines Menschen zu vermessen. In der modernen Psychologie ist dafür die sogenannte Ocean-Methode zum Standard geworden. Zwei Psychologen war in den 1980ern der Nachweis gelungen, dass jeder Charakterzug eines Menschen sich anhand von fünf Persönlichkeitsdimensionen messen lässt, den Big Five: Offenheit (Wie aufgeschlossen sind Sie gegenüber Neuem?), Gewissenhaftigkeit (Wie perfektionistisch sind Sie?), Extraversion (Wie gesellig sind Sie?), Verträglichkeit (Wie rücksichtsvoll und kooperativ sind Sie?) und Neurotizismus (Sind Sie leicht verletzlich?). Anhand dieser Dimensionen kann man relativ genau sagen, mit was für einem Menschen wir es zu tun haben, also welche Bedürfnisse und Ängste er hat, und aber auch, wie er sich tendenziell verhalten wird. Das Problem aber war lange Zeit die Datenbeschaffung, denn zur Bestimmung musste man einen komplizierten, sehr persönlichen Fragebogen ausfüllen. Dann kam das Internet. Und Facebook.
Jetzt werden gezielt bestimmte Menschengruppen mit für sie sensiblen Informationen bombardiert.
Am Tag der dritten Präsidentschaftsdebatte zwischen Trump und Clinton versendet Trumps Team 175 000 verschiedene Variationen seiner Argumente, vor allem via Facebook. Die Botschaften unterscheiden sich meist nur in mikroskopischen Details, um den Empfängern psychologisch optimal zu entsprechen: verschiedene Titel, Farben, Untertitel, mit Foto oder mit Video. Die Feinkörnigkeit der Anpassung geht hinunter bis zu Kleinstgruppen, erklärt Nix im Gespräch mit «Das Magazin». «Wir können Dörfer oder Häuserblocks gezielt erreichen. Sogar Einzelpersonen.» In Miamis Stadtteil Little Haiti versorgte Cambridge Analytica Einwohner mit Nachrichten über das Versagen der Clinton-Stiftung nach dem Erdbeben in Haiti – um sie davon abzuhalten, Clinton zu wählen. Das ist eines der Ziele: potenzielle Clinton-Wähler – hierzu gehören zweifelnde Linke, Afroamerikaner, junge Frauen – von der Urne fernzuhalten, ihre Wahl zu «unterdrücken», wie ein Trump-Mitarbeiter erzählt. In sogenannten dark posts, das sind gekaufte Facebook-Inserate in der Timeline, die nur User mit passendem Profil sehen können, werden zum Beispiel Afroamerikanern Videos zugespielt, in denen Hillary Clinton schwarze Männer als Raubtiere bezeichnet.
Ganzer Text der Zitate: dasmagazin.ch/2016/12/03/ich-h…t-dass-es-die-bombe-gibt/
Angesichts dieses Abgrunds an Niedertracht kann man sich eigentlich nur einen Attentäter mit ruhiger Hand und perfekt funktionierendem Gerät wünschen.