Hat Frankfurt wirklich ein Problem mit sogenannter „Ausländerkriminalität”?
Von Ben Kilb
Ich kann nicht zählen, wie viele Menschen mir während meiner Kindheit im Hochtaunus davon abgeraten haben, nach Frankfurt zu fahren. Dem meist nicht sonderlich weit gereisten Provinzler galt die Stadt als „das gefürchtete Tal". Die Warnungen klangen fast immer gleich: „Was willst'n da? Da gibt's doch nur Kanaken, nur Kopptücher und Öl-Köppe!" Der jähe Untergang wurde Frankfurt daher prophezeit und einem selbst der Sturz ins Verderben, sollte man sich von der vermeintlich heilen Welt auf dem Berg ins Tal wagen.
Stadtteile wie der Ben-Gurion-Ring im Norden Frankfurts, der Seckbacher Atzelberg und das Niederräder Mainfeld waren damals in der Tat noch heiße Pflaster, Offenbach galt als Vorstufe zur Dritten Welt. Doch wer im Dorf keine Lust auf die Feuerwehr hatte und nicht ewig an der Bong kleben wollte, musste irgendwann ins Tal, um was zu erleben.
Was die Menschen auf dem Berg wohl heute über Frankfurt denken? 45 Prozent aller in Frankfurt lebenden Menschen haben inzwischen ausländische Wurzeln. Die Stadt baut ihren Ruf als „Hauptstadt des Verbrechens" Deutschlands in den Kriminalstatistiken von Jahr zu Jahr weiter aus und über 60 Prozent der Tatverdächtigen in Frankfurt in 2014 hatten einen Migrationshintergrund.
Jene Perspektive macht Gemüter empfänglicher für Warnungen vor einer „neuen Völkerwanderung" von bis zu 800 Millionen Flüchtlingen. Für Warnungen vor einem Bürgerkrieg und einer Kultur der Gewalt, die der Flüchtling angeblich in der Bundesrepublik verbreitet.
Daher fühlen sich immer mehr besorgte Bürger dazu berufen, Buch zu führen über jeden Fall oder jedes Gerücht der „Ausländerkriminalität". Auf messerstecher.wordpress.com listet ein unbekannter Autor penibel Zeitungsartikel über afghanische Messerstecher, schwarze Drogendealer, bosnische Straßenräuber auf. Den Autoren von journalistenwatch.com haben von Anfang Mai 2015 bis Ende Juni 2015 zwei Monate gereicht, um über 1.000 Fälle von vermeintlicher „Ausländerkriminalität" in der so genannten „Liste des Horrors" aufzuführen.
Islam-Hasser Michael Mannheimer sieht sich selbst als großen Aufklärer in Sachen „Ausländerkriminalität". Ebenso sein Freund im Geiste Michael Stürzenberger, Bundesvorsitzender der rechtspopulistischen Kleinpartei „Die Freiheit" und Autor des Verschwörungsblogs „Politically Incorrect". „Stürzi", wie ihn seine Anhänger nennen, wird nie müde zu warnen, „dass in Nordafrika Hunderttausende Terroristen auf die Überfahrt warten". Dass ihm auf Demos in Frankfurt regelmäßig nur eine Handvoll der in der Stadt verbliebenen mindestens 350.000 Deutschen zuhört, scheint ihn nicht zu stören.
Der Rechtsintellektuelle Götz Kubitschek will mit Deutsche Opfer. Fremde Täter eine Art Schwarzbuch der „Ausländerkriminalität" geschrieben haben. Unter deutscheopfer.de führte er bis vor zwei Jahren einen dazugehörigen Blog. Warum er ihn einstellte, ist nicht bekannt.
Jene drei geistigen Väter der Lügenpresse-Rufe besorgen sich ihre „Beweise" jedoch nicht auf der Straße, in Brennpunkten oder in Asylbewerberheimen. Sie bedienen sich ähnlich wie die Autoren von journalistenwatch.com an Quellen, die sie andererseits als „System-Medien" verschmähen, darunter die Frankfurter Allgemeine, die Süddeutsche und Hunderte deutscher Lokalzeitungen.
Oft informieren sich Stürzenberger, Mannheimer und Kubitschek aber auch über Medien wie die für journalistische Standards nicht sonderlich gut bekannte Epoch Times, die neulich auf die sexuellen Bedürfnisse der Flüchtlinge aufmerksam machte. Weil unter diesen viele junge Männer seien, die ihre Lust notfalls illegal auslebten, warnte das Blatt vor einem bislang tabuisierten Ansturm der Vergewaltiger.
Für weltfremde Rassisten und Brandstifter wie „Stürzi", Kubitschek und alle Chronisten von Ausländerverbrechen verkörpert der Migrant also per se alles Schlechte in der Welt und verseucht damit das im Vergleich zu seiner dahin siechenden Heimat noch halbwegs reine Deutschland, meinen die selbsternannten „Experten". Pegida-Anhänger, AfDler und Rechtsextreme bedienen sich jener Gerüchte, um Ängste zu schüren. Im besten Fall schleppt der besorgte Bürger als Reaktion für Angela Merkel und Sigmar Gabriel bestimmte Galgen auf Demos mit sich. Im schlimmsten fall sticht er der Kölner Sozialdezernentin mit einem Bowie-Messer in den Hals und zündet Flüchtlingsheime an.
Die blanken Zahlen zur „Ausländerkriminalität" mögen für manch einen Fakten schaffen. Wie die Zahlen zustande kommen und wie die Wirklichkeit aussieht, hinterfragen rechte Populisten so gut wie nie. Ich unterhalte mich mit dem Kriminologen Dr. Christian Walburg von der Uni Münster und er verweist auf Inhaltsanalysen, die gezeigt hätten, dass Migrationsfragen in den Medien lange Zeit recht einseitig und zum Teil auch dramatisierend im Zusammenhang mit „Problemen" - und überproportional häufig mit dem Thema Kriminalität - erörtert wurden. „Die vielfach alltägliche Normalität des Zusammenlebens von Menschen unterschiedlicher Herkunft, sowie ‚normale' oder besonders erfolgreiche ‚Integrationsverläufe' haben weniger Nachrichtenwert und wurden so wenig abgebildet", berichtet Walburg.
Dass Ausländer von Natur aus kriminell seien, wollte man mir früher auch im Dorf weismachen. Abschrecken lassen habe ich mich davon nicht und bin irgendwann nach Offenbach gezogen. Dort sollten bereits Zustände herrschen, die Frankfurt erst noch bevorstünden. Für die Offenbach Post habe ich damals jeden Winkel der Stadt erkundet, zu jeder Tages- und Nachtzeit. Eine einzige kriminelle Erfahrung mit einem Ausländer habe ich dort gemacht: Frühmorgens setzte sich ein freundlicher Araber zu mir ins S-Bahn-Abteil und schenkte mir ein Stück Hasch.
Dass ich nach einiger Zeit nach Frankfurt zog, war nicht die Schuld Offenbachs, sondern die meines Vermieters. In der Mainmetropole begab ich mich dann manchmal auf Auftrag und manchmal freiwillig in die damals noch von manchen „Brennpunkte" genannten Problemviertel am Rand der Stadt. Der Chefredakteur einer Lokalzeitung schickte mich für einen meiner ersten Aufträge nach Preungesheim, wo sich Migrantenkids angeblich mit Uzis bekriegen sollten. Beweise dafür konnte ich nie finden. Wen ich auch fragte - man schaute mich an, als suchte ich im Frankfurter Norden nach Atlantis.
( ... )
Frankfurt sollte in vieler Hinsicht als bestes Beispiel gelten, wie sehr mit den Warnungen vor der „Ausländerkriminalität" übertrieben wird. Man kann sie allerdings auch heraufbeschwören. Denn das Einzige, das in den letzten Wochen und Monaten explosionsartig angestiegen ist, sind die Verbrechen gegen Ausländer. Flüchtlingsheime brennen, Ausländer werden beschimpft, bespuckt, geschlagen und in einer Berliner U-Bahn sogar angepisst.
Verantwortlich dafür sind auch Michael Stürzenberger, Götz Kubitschek und ihre Mitstreiter, ach und Horst Seehofer so langsam auch. Wenn es bald zu einem neuen Solingen, einem neuen Mölln kommt, haben jene Leute spätestens dann Blut an ihren Händen.
Ganzer Text: vice.com/de/read/hat-frankfurt…slaenderkriminalitaet-776
Von Ben Kilb
Ich kann nicht zählen, wie viele Menschen mir während meiner Kindheit im Hochtaunus davon abgeraten haben, nach Frankfurt zu fahren. Dem meist nicht sonderlich weit gereisten Provinzler galt die Stadt als „das gefürchtete Tal". Die Warnungen klangen fast immer gleich: „Was willst'n da? Da gibt's doch nur Kanaken, nur Kopptücher und Öl-Köppe!" Der jähe Untergang wurde Frankfurt daher prophezeit und einem selbst der Sturz ins Verderben, sollte man sich von der vermeintlich heilen Welt auf dem Berg ins Tal wagen.
Stadtteile wie der Ben-Gurion-Ring im Norden Frankfurts, der Seckbacher Atzelberg und das Niederräder Mainfeld waren damals in der Tat noch heiße Pflaster, Offenbach galt als Vorstufe zur Dritten Welt. Doch wer im Dorf keine Lust auf die Feuerwehr hatte und nicht ewig an der Bong kleben wollte, musste irgendwann ins Tal, um was zu erleben.
Was die Menschen auf dem Berg wohl heute über Frankfurt denken? 45 Prozent aller in Frankfurt lebenden Menschen haben inzwischen ausländische Wurzeln. Die Stadt baut ihren Ruf als „Hauptstadt des Verbrechens" Deutschlands in den Kriminalstatistiken von Jahr zu Jahr weiter aus und über 60 Prozent der Tatverdächtigen in Frankfurt in 2014 hatten einen Migrationshintergrund.
Jene Perspektive macht Gemüter empfänglicher für Warnungen vor einer „neuen Völkerwanderung" von bis zu 800 Millionen Flüchtlingen. Für Warnungen vor einem Bürgerkrieg und einer Kultur der Gewalt, die der Flüchtling angeblich in der Bundesrepublik verbreitet.
Daher fühlen sich immer mehr besorgte Bürger dazu berufen, Buch zu führen über jeden Fall oder jedes Gerücht der „Ausländerkriminalität". Auf messerstecher.wordpress.com listet ein unbekannter Autor penibel Zeitungsartikel über afghanische Messerstecher, schwarze Drogendealer, bosnische Straßenräuber auf. Den Autoren von journalistenwatch.com haben von Anfang Mai 2015 bis Ende Juni 2015 zwei Monate gereicht, um über 1.000 Fälle von vermeintlicher „Ausländerkriminalität" in der so genannten „Liste des Horrors" aufzuführen.
Islam-Hasser Michael Mannheimer sieht sich selbst als großen Aufklärer in Sachen „Ausländerkriminalität". Ebenso sein Freund im Geiste Michael Stürzenberger, Bundesvorsitzender der rechtspopulistischen Kleinpartei „Die Freiheit" und Autor des Verschwörungsblogs „Politically Incorrect". „Stürzi", wie ihn seine Anhänger nennen, wird nie müde zu warnen, „dass in Nordafrika Hunderttausende Terroristen auf die Überfahrt warten". Dass ihm auf Demos in Frankfurt regelmäßig nur eine Handvoll der in der Stadt verbliebenen mindestens 350.000 Deutschen zuhört, scheint ihn nicht zu stören.
Der Rechtsintellektuelle Götz Kubitschek will mit Deutsche Opfer. Fremde Täter eine Art Schwarzbuch der „Ausländerkriminalität" geschrieben haben. Unter deutscheopfer.de führte er bis vor zwei Jahren einen dazugehörigen Blog. Warum er ihn einstellte, ist nicht bekannt.
Jene drei geistigen Väter der Lügenpresse-Rufe besorgen sich ihre „Beweise" jedoch nicht auf der Straße, in Brennpunkten oder in Asylbewerberheimen. Sie bedienen sich ähnlich wie die Autoren von journalistenwatch.com an Quellen, die sie andererseits als „System-Medien" verschmähen, darunter die Frankfurter Allgemeine, die Süddeutsche und Hunderte deutscher Lokalzeitungen.
Oft informieren sich Stürzenberger, Mannheimer und Kubitschek aber auch über Medien wie die für journalistische Standards nicht sonderlich gut bekannte Epoch Times, die neulich auf die sexuellen Bedürfnisse der Flüchtlinge aufmerksam machte. Weil unter diesen viele junge Männer seien, die ihre Lust notfalls illegal auslebten, warnte das Blatt vor einem bislang tabuisierten Ansturm der Vergewaltiger.
Für weltfremde Rassisten und Brandstifter wie „Stürzi", Kubitschek und alle Chronisten von Ausländerverbrechen verkörpert der Migrant also per se alles Schlechte in der Welt und verseucht damit das im Vergleich zu seiner dahin siechenden Heimat noch halbwegs reine Deutschland, meinen die selbsternannten „Experten". Pegida-Anhänger, AfDler und Rechtsextreme bedienen sich jener Gerüchte, um Ängste zu schüren. Im besten Fall schleppt der besorgte Bürger als Reaktion für Angela Merkel und Sigmar Gabriel bestimmte Galgen auf Demos mit sich. Im schlimmsten fall sticht er der Kölner Sozialdezernentin mit einem Bowie-Messer in den Hals und zündet Flüchtlingsheime an.
Die blanken Zahlen zur „Ausländerkriminalität" mögen für manch einen Fakten schaffen. Wie die Zahlen zustande kommen und wie die Wirklichkeit aussieht, hinterfragen rechte Populisten so gut wie nie. Ich unterhalte mich mit dem Kriminologen Dr. Christian Walburg von der Uni Münster und er verweist auf Inhaltsanalysen, die gezeigt hätten, dass Migrationsfragen in den Medien lange Zeit recht einseitig und zum Teil auch dramatisierend im Zusammenhang mit „Problemen" - und überproportional häufig mit dem Thema Kriminalität - erörtert wurden. „Die vielfach alltägliche Normalität des Zusammenlebens von Menschen unterschiedlicher Herkunft, sowie ‚normale' oder besonders erfolgreiche ‚Integrationsverläufe' haben weniger Nachrichtenwert und wurden so wenig abgebildet", berichtet Walburg.
Dass Ausländer von Natur aus kriminell seien, wollte man mir früher auch im Dorf weismachen. Abschrecken lassen habe ich mich davon nicht und bin irgendwann nach Offenbach gezogen. Dort sollten bereits Zustände herrschen, die Frankfurt erst noch bevorstünden. Für die Offenbach Post habe ich damals jeden Winkel der Stadt erkundet, zu jeder Tages- und Nachtzeit. Eine einzige kriminelle Erfahrung mit einem Ausländer habe ich dort gemacht: Frühmorgens setzte sich ein freundlicher Araber zu mir ins S-Bahn-Abteil und schenkte mir ein Stück Hasch.
Dass ich nach einiger Zeit nach Frankfurt zog, war nicht die Schuld Offenbachs, sondern die meines Vermieters. In der Mainmetropole begab ich mich dann manchmal auf Auftrag und manchmal freiwillig in die damals noch von manchen „Brennpunkte" genannten Problemviertel am Rand der Stadt. Der Chefredakteur einer Lokalzeitung schickte mich für einen meiner ersten Aufträge nach Preungesheim, wo sich Migrantenkids angeblich mit Uzis bekriegen sollten. Beweise dafür konnte ich nie finden. Wen ich auch fragte - man schaute mich an, als suchte ich im Frankfurter Norden nach Atlantis.
( ... )
Frankfurt sollte in vieler Hinsicht als bestes Beispiel gelten, wie sehr mit den Warnungen vor der „Ausländerkriminalität" übertrieben wird. Man kann sie allerdings auch heraufbeschwören. Denn das Einzige, das in den letzten Wochen und Monaten explosionsartig angestiegen ist, sind die Verbrechen gegen Ausländer. Flüchtlingsheime brennen, Ausländer werden beschimpft, bespuckt, geschlagen und in einer Berliner U-Bahn sogar angepisst.
Verantwortlich dafür sind auch Michael Stürzenberger, Götz Kubitschek und ihre Mitstreiter, ach und Horst Seehofer so langsam auch. Wenn es bald zu einem neuen Solingen, einem neuen Mölln kommt, haben jene Leute spätestens dann Blut an ihren Händen.
Ganzer Text: vice.com/de/read/hat-frankfurt…slaenderkriminalitaet-776