Fluechtlingsbetreuung/Containertagebuch

      Irgendwo in Norderstedt, Juni 2019

      Die alte Dame hat sich fast ein Jahr gequält, nach mehreren Schlaganfällen. Anfangs sprach sie etwa so viel Deutsch wie ich Türkisch, was zu einer Basiskommunikation ausrechte. Schliesslich verweigerte sie Essen und Trinken, konnte nicht mehr sprechen, nur noch ja und nein signalisieren - auf meine Frage "hastaneye istiyorsunuz ?" - möchten Sie ins Krankenhaus - schüttelte sie den Kopf.
      Ein paar Tage später ging auch das nicht mehr. Die Familie pflegte sie liebevoll, aber alle wussten, dass die letzte Reise bevorstand. Eines Abends bekam ich den Anruf, dass sie eingeschlafen war.
      Als ich zu ihr ins Zimmer kam, lag auf ihrem Bett ein großes Messer, in eine Serviette eingewickelt. Ich war irritiert und fragte, was das für eine Bedeutung habe.
      Das sei "gegen die Bauchgase".
      Ich nahm das für bare Münze und erklärte, in den ersten 24 Stunden, d.h. länger als sie noch im Haus sei, würde es noch keine "Gasentwicklung" geben. Daraufhin nahmen sie das Messer weg, ich machte
      die Leichenschau und schrieb den Totenschein. Beantwortete die noch offenen Fragen, wünschte den Anwesenden Basininiz saholsun, sinngemäß für "Herzliches Beileid" und fuhr nach Hause.
      Am nächsten Tag kam ein Angehöriger in die Praxis, und ich fragte ihn nochmal nach dem Sinn des Messers. Er wusste es auch nicht genau, habe es nur schon öfter bei verstorbenen Landsleuten gesehen. Das Ganze sei ein Ritual, das Messer käme nicht zum Einsatz.
      Auf einer Islamseite fand ich einiges zum Thema Umgang mit Verstorbenen. Dort stand, dass es in einigen Regionen üblich sei, den Verstorbenen ein Messer oder einen anderen Gegenstand aus Metall auf den Bauch zu legen, damit es nicht zu einer Gasentwicklung komme.
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      Entspanne dich. Lass das Steuer los. Trudle durch die Welt. Sie ist so schön.
      - Kurt Tucholsky -
      Hab inzwischen herausbekommen, dass das mit den Gasen weniger zu tun hat. Sondern dass es sich um einen Gegenstand handeln muss, den der Schmied gemacht hat - der Mensch mit der ungeheuren Kraft, das Feuer zu zähmen. Damit hält dieser Gegenstand die bösen Geister von den Verstorben ab - das mit den Gasen ist eine nachträgliche Rationalisierung.
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      - Kurt Tucholsky -
      Der Mensch formt sich sein Weltbild halt so das er mit den gerade gebotenen Möglichkeiten
      gut durch die Realität kommt. Deshalb schätze ich solche Rituale nie gering.
      Hallo grizzly!
      Wünsche Dir noch viel Freude auf Deiner Reise durch Schweden. Stehen hier in Deutschland
      vor der 4. Heißfront dieses Jahr. :angstschreck:
      Wenn am Abend noch das Feuer brennt hat der Schmied den Feierabend verpennt.

      Dieser Beitrag wurde bereits 1 mal editiert, zuletzt von „COOLmann“ ()

      Danke, lieber COOLmann.
      Schwedische Zeitungen sprechen auch hier von einer Hitzewelle, wobei maximal 25 Grad (gestern in Stockholm) noch angenehm sind.

      Sicher sind Rituale, wenn sie niemandem weh tun, nicht gering zu schätzen, nur war das mir so neu, dass ich nicht mal drauf kam, dass das ein Ritual ist.
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      - Kurt Tucholsky -
      Norderstedt, Juli 2019

      Inzwischen bin ich hinsichtlich der Bedeutung des Messers auf dem Bauch
      von Verstorbenen schlauer - mehr dazu:
      containertagebuch.de/CTB-64/Soldan-Bericht-64.html
      Tatsächlich ist dieser Brauch nicht ursprünglich muslimisch, sondern
      schamanistisch. Demnach geht es auch nicht primär um ein Messer oder
      einen Dolch, sondern um einen metallenen Gegenstand, einen, den der
      Schmied gemacht hat - der Mensch, der die Kraft hat, das Feuer zu
      zähmen.

      Mit Hilfe dieser Kraft sollten dann böse Geister abgehalten werden. Die
      Idee mit den Bauchgasen ist wohl eine spätere Rationalisierung,
      um nicht den Eindruck zu erwecken, dass man an böse Geister glaube.

      Horst/Mecklenburg, Ende September 2019
      Ab Oktober werden keine Geflüchteten aus Hamburg mehr in der "Erstaufnahme" Nostorf/Horst untergebracht. Das ist erstmal gut.
      Flüchtlinge aus Mecklenburg-Vorpommern müssen allerdings weiterhin in diesem entlegenen Lager ohne hinreichende Verkehrsanbindung wohnen, weshalb unsere Anwalts- und Arztsprechstunden weiterhin notwendig sind und auch nachgefragt werden. Allerdings verweigert die Lagerleitung,
      die uns schon immer, wo es ging, Knüppel zwischen die Beine geworfen hat, jetzt dem Flüchtlingsrat Hamburg die Benutzung des Flüchtlingsratscontainers, d.h. sie wollen uns den nicht mehr
      aufsperren, mit der Begründung, dass eine Beratung Hamburger Geflüchteter nicht mehr notwendig sei, weil es keine mehr gibt. Dass wir natürlich genauso nach Mecklenburg-Vorpommern verteilte Flüchtlinge beraten - bzw. bisher nach der "Zugehörigkeit" nur gefragt haben, wenn beratungstechnisch erforderlich, etwa um Zuständigkeiten herauszubekommen - ist von offizieller Seite unerwünscht.
      Gefallen lassen wir uns das natürlich nicht, und werden weiter nach Horst fahren.

      Hamburg-Marienkrankenhaus, 21.9.2019

      Heute sollte das erste Kind von Neslihan K. zur Welt kommen. Sie liegt - laut Hamburger Morgenpost - bereits im Kreißsaal.
      Die Fruchtblase ist geplatzt, und gegen 12 Uhr verspürt Neslihan Wehen.
      Aber, nicht nur, dass stundenlang keine Schwester, Hebamme oder
      Arzt nach ihr sieht, sie wird gegen 14:45 auch noch aus dem Kreißsaal in
      ein normales Krankenzimmer verlegt, weil eine andere Geburt
      vorgezogen werden soll. Aufgrund zunehmender Schmerzen wird gegen 16:00
      ein erneutes CTG gemacht, das keine kindlichen Herztöne mehr zeigt -
      bei den bisherigen Untersuchungen sei noch alles in Ordnung gewesen.

      Ein Notkaiserschnitt kommt zu spät, der kleine Junge ist bereits tot.
      Über die jetzt folgenden Untersuchungen ist noch nichts bekannt.
      Hier der MoPo-Bericht: mopo.de/hamburg/drama-in-hambu…R5jPTt6Dr8AwQBgSQ3l-0Q2NU

      Ich wage zu behaupten, dass eine Mutter namens Beatrix oder Sophie-Charlotte anders behandelt worden und eine solche Tragödie unwahrscheinlich gewesen wäre. Bei solchen Katastrophen sind nach meinen Informationen Migrantinnen gehäuft betroffen.

      Offensichtlich haben Frauen, die nicht so aussehen, als hätten sie ausschliesslich europäische Vorfahren, auch in Deutschland erhöhte Risiken, in Krankenhäusern unter die Räder zu kommen, ähnlich wie Afro-Amerikanerinnen in den USA, wovor nicht einmal die Prominenz einer
      Serena Williams schützt, wie eine Reportage beweist -
      siehe deren eigene Geschichte.


      Und das ist kein neues Phänomen. Mitte der 70er bekam ich als Redakteur
      unserer Heidelberger Medizinstundentenzeitung
      einen Bericht in die Hand und veröffentlichte ihn dort. Danach starb am
      21. Juni 1974 in Aachen die 27jährige Jamina Abdeljaliki, Ehefrau eines
      marokkanischen Migranten, an einer Darmlähmung, unmittelbar sie nachdem
      von Professort Martin Reifferscheid, dem angesehener Autoren eines
      Chirurgie-Lehrbuchs, im Hörsaal als "ein akuter Fall von Volvulus"
      vorgeführt worden war, während sie sich erbrach, schrie und sich in
      Schmerzen
      wand. Sie wurde noch aus dem Hörsaal geschoben, vier Minuten später war
      sie tot.

      Bevor die Staatsanwaltschaft die Leiche beschlagnahmen und an der Bonner
      Universität obduzieren lassen konnte, waren ihr die Aachener Kollegen
      des Herrn Reifferscheid zuvorgekommen und hatten Leber, eine Niere, den
      Darm und innere Genitalien, mithin alle Organe, aus denen man wichtige
      Erkenntnisse hätte ziehen können, entfernt und verbrannt. Die folgenden
      Ermittlungen verliefen im Sand. Ein Flugblatt, das anwesende Studenten
      verfasst hatten, wurde auf Betreiben der Hochschulleitung beschlagnahmt
      ("Bruch der Schweigepflicht").

      Quelle: m.spiegel.de/spiegel/print/d-4…mHJK6d9TGD4WIX0ldWRn0HcaE

      Der Herr Professor durfte unbehelligt weiter wirken, bis er 1982 feierlich verabschiedet wurde und 1993 hochgeehrt starb.

      Jamina Abdeljaliki hätte sich, zu diesem Zeitpunkt 46jährig, vielleicht auf ihr erstes Enkelkind gefreut.

      Was Reifferscheid, Jahrgang 1917, während der NS-Diktatur getrieben hat,
      lässt sich von hier aus nicht eruieren. Immerhin waren fast die
      Hälfte aller deutschen Ärzte NSDAP-Mitglieder gewesen, viele an
      Verbrechen beteiligt - mehr hier:
      de.wikipedia.org/wiki/Liste_vo…n_an_NS-Medizinverbrechen

      Es war für uns als Medizinstudenten in den 70ern nicht ganz einfach,
      Lehrbücher von NS-unbelasteten Autoren zu bekommen. Mein antiquarisch
      erworbenes und in der DDR gedrucktes Anatomie-Lehrbuch stammte zB von
      einem Hermann Voss, von der DDR-Regierung immerhin als "Hervorragender
      Wissenschaftler des Volkes" geehrt, der in seinem Posener Tagebuch Sätze
      vom Stapel lässt wie: "Die ( ... ) erschossenen Polen werden hier nachts
      eingeliefert und verbrannt. Wenn man doch nur die ganze polnische Gesellschaft so veraschen könnte.

      Das polnische Volk muss ausgerottet werden, sonst gibt es hier keine Ruhe im Osten“.

      Oder der Wiener Professer und SA-Obersturmbannführer Eduard Pernkopf, in dessen Anatomieatlas viele Präparate abgebildet waren, die von ermordeten politischen Gefangenen stammten.

      Wir wussten das damals nicht. Aber damals haben viele nichts gewusst.
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      - Kurt Tucholsky -
      In Norderstedt Mitte sind in den letzten Monaten zwei aus Polen stammende Obdachlose gestorben. Ich kannte beide, habe Janusz vor zwei Jahren zu einer Krankenhausbehandlung verholfen, was seinen Zustand vorübergehend erheblich verbessert hat. Leider eben nur vorübergehend. Im September wurde er, 47 Jahre alte geworden, tot in seinem Zelt aufgefunden. Sein Bruder, der lang von ihm nichts gehört hatte, hat ihn abgeholt und in Polen beerdigt.

      Jan hatte vor einem Jahr eine schwere Augeninfektion, die eine Operation mit schwieriger Nachbehandlung notwendig machte, mehr dazu:
      containertagebuch.de/CTB-59/Soldan-Bericht-59.html
      Mit Hilfe engagierter Menschen in diversen Krankenhäusern Hat das alles funktioniert, und er erlebte noch ein, zumindestens was das Auge betraf, gutes Jahr, bevor er vor zwei Wochen in einer Toilette tot aufgefunden wurde. Er war 63 Jahre alt. Und das kurz bevor das Winternotprogramm eröffnet wirde (in Norderstedt ab 1.Dezember), wo er einen Platz bekommen hätte.
      ndr.de/nachrichten/hamburg/Hin…amburg,obdachlose402.html

      In Hamburg öffnet das Winternotprogramm zum 1.November - diese Umstände unterstreichen, dass es ein Wohnungsnotprogramm für das ganze Jahr mit einer wesentlich höheren Platzzahl geben muss.
      hinzundkunzt.de/winternotprogramm-startet-2/


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      - Kurt Tucholsky -

      Dieser Beitrag wurde bereits 5 mal editiert, zuletzt von „Grizzly“ ()

      Jan war der dritte innerhalb weniger Tage im öffentlichen Raum verstorbene Obdachlose aus dem Kreis der Hinz-und-Kunzt-Verkäufer. Es ist zwingend erforderlich, dass die Schlafstellen des Winternotprogramms nicht nur ganzjährig, sondern auch ganztägig geöffnet sind - bisher müssen alle Menschen um 9:30 die Unterkunft verlassen und haben erst abends wieder Zutritt..
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      Horst/Mecklenburg Herbst 2019

      Es ist ja nicht alles schlechter geworden in Horst.
      Die meisten Bewohner/innen haben jetzt Bustickets bekommen, und die Busse fahren auch etwas öfter. Oft sind es allerdings Rufbusse, die man spätestens zwei Stunden vor Abfahrt bestellen muss, und ich frage mich, wie das mit rudimentären Deutschkenntnissen geht - schliesslich gibt es im Lager keine Deutschkurse, auch keinen Schulunterricht für die Kinder.

      Ansonsten regiert der übliche Wahnsinn.
      Ein Bewohner, schon etwas angetrunken, hat sich von seinem Zimmernachbarn fünf Euro geliehen, um sich noch etwas zu trinken zu holen. Er verschwindet, für die Temperaturen Ende Oktober unzureichend gekleidet und taucht tagelang nicht wieder auf. Es kommt ein Gerücht auf, er seit tot, läge erfroren im Wald. Die Polizei erscheint beim Mitbewohner und lässt sich Haar- und Zahnbürste des Vermissten geben, für einen DNA-Abgleich.
      Am 15.11. sind wir vor Ort, auch um zu erfahren was da jetzt Sache ist. Der Mitbewohner berichtet, derweil fahren zwei Polizeibusse und ein Streifenwagen auf, um - nach unseren Informationen - im Lager nach dem Verschwundenen zu suchen. Später gibt es eine Prerssmeldung darüber.
      Irgendwann später taucht der Gesuchte tatsächlich wieder wohlbehalten auf, was in der Zwischenzeit passiert ist, bleibt im Dunkeln. Die Geheimhaltungstaktik von Landesamt und Lagerleitung trägt in solchen Fällen eindeutig zur Gerüchtebildung und Verunsicherung aller Betroffenen bei.

      Weiterhin sind Ärzte nur sporadisch von Ort. So werden notwendig gewordene fachärztliche Untersuchungen immer wieder verschleppt. Letzte Woche stellte mir ein Bewohner eine junge Frau mit Epilepsie vor - nachgewiesen durch einen Facharztbrief - die trotz Medikation immer wieder Krampfanfälle bekam. Arzt oder Krankenschwester im Lager hätten ihr daraufhin gesagt, zum Neurologen müsse sie erst in einem Jahr wieder, und ohne Überweisung kommt sie da nicht hin.
      Wir setzen uns in mein Auto - Patientin Beifahrerseite, Dolmetscher Rücksitz, das Lenkrad dient mir als Schreibunterlage. Ich schreibe ihr ein Attest, dass sie wegen ihrer Krampfanfälle dringend und zeitnah einem Neurologen vorgestellt werden müsse, und notiere mir ihre Telefonnummer, um nachzufragen, ob das passiert ist. Nach meiner bisherigen Erfahrung hilft das manchmal.

      Neben dem Beratungscontainer, den wir vom Hamburger Flüchtlingsrat nicht mehr betreten dürfen, steht ein Toilettencontainer, den ich aufsuche, bevor ich nach Hause fahren will. Als ich ihn fünf Minuten später wieder verlasse, steht ein junger Wachmann vor der Tür und erklärt mir, dass ich diesen Bereich nicht betreten dürfe.
      Wo ich mich denn anmelden müsste, wenn ich auf Toilette will, frage ich.
      Der junge Mann zuckt mit den Schultern. Er sei nur angewiesen worden, mir das zu sagen.
      Da ich das, was ich im Toilettencontainer wollte, bereits erledigt habe, verzichte ich auf eine weitere Eskalation und verlasse diesen gastlichen Ort weisungsgemäß.


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      Dieser Beitrag wurde bereits 4 mal editiert, zuletzt von „Grizzly“ ()

      Lieber COOLmann,
      ich geb Dir in beiden Punkten Recht. Beim Neurologen müsste ich als Hausarzt schon selber anrufen und den Fall als dringlich deklarieren. Wobei Krampfanfälle trotz Medikation eine solche Dringlichkeit begründen.
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      - Kurt Tucholsky -
      Immer wieder erlebe ich, dass ehemals Geflüchtete, die jetzt ein permanentes Bleiberecht haben oder sogar schon die deutsche Staatsbürgerschaft, "Urlaub" in ihren Herkunftsländern machen, auch wenn aufgrund der Kriegsgefährdung deutscherseits im Regelfall nicht oder nur unter massivsten Protesten abgeschoben wird, wie Afghanistan oder Irak. Und dass sie im Regelfall auch wieder heil zurückkommen. Natürlich habe ich das bisher nicht weitererzählt, denn es wäre Wasser auf die Mühlen sämtlicher Rassisten:
      "Was ? Die machen Urlaub dort ? Dann kann das dort ja nicht so gefährlich sein, dann kann man ja ruhig nach Afghanistand abschieben. Von wegen unsicheres Kriegsland."

      Ich hab's jetzt doch mal berichtet, auf einer Veranstaltung über Afghanistan. Eine Spezialistin, die dort längere Zeit gelebt hat und z.B. dem Schicksal Abgeschobener nachgegangen ist, hat mir dazu folgendes erklärt:
      Verwandtenbesucher und Ausgewiesene/Abgeschobene sind zwei vollkommen unterschiedliche Menschengruppen.
      Die Besucher bringen Geld und Geschenke mit, haben schon in der Vergangenheit ihre Familie unterstützt und werden dies weiterhin tun. Sie ermöglichen vielen Angehörigen im Land überhaupt eine wirtschaftliche Existenz. Es gibt viele Länder, da kommt durch Verwandtenüberweisungen u.a. mehr Geld ins Land als über die Entwicklungshilfe. Afghanistan gehört dazu.

      Die Besucher/innen kommen deshalb in feste Häuser, vorzugsweise in Kabul, und werden mit den vereinten Kräften des Familienverbands abgesichert. Diese Häuser verlassen sie nur selten, und dann unter - oft bewaffneter - Bewachung. Vielleicht nicht so martialisch wie Herr de Maiziere, aber wirksam trotzdem.

      Zumal sie sich bemühen, nicht aufzufallen, und somit sicherer sind als zB ein Bundeswehrsoldat, der sich dort aufhält und aufgrund seiner Aufgabe auffallen muss. Oder Botschaftsangehörige, die auf dem Präsentierteller sitzen. Hingegen sind die Besucher unauffällige Ehrengäste. Und ihr Schutz wird fortgesetzt, bis sie wieder im Flieger nach Hause, sprich Deutschland, sitzen. Schliesslich will man ja noch etwas von ihnen haben.

      Ganz anders die Deportierten. Die meisten Euro oder Wertgegenstände hat ihnen die Ausländerbehörde schon abgenommen. Den Rest verlieren sie an Kriminelle oder an Hotelvermieter, denn auf ein verwandtschaftliches Netzwerk können die wenigsten zurückgreifen. Ihre Abschiebung demonstriert, dass sie gescheitert sind. Niemand profitiert von ihnen. Oft waren sie lang nicht mehr im Land, kennen sich da wo sie jetzt sind nicht aus, oder der Ort, den sie kannten, hat sich vollkommen verändert, ist beispielsweise durch Bomben zerstört.
      Oft verliert sich ihre Spur, vereinzelt werden Suizide bekannt, wahrscheinlich gibt es dabei eine hohe Dunkelziffer. Die Abschiebung oder "freiwillige" Ausreise ist oft ein Todesurteil.
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      - Kurt Tucholsky -

      Dieser Beitrag wurde bereits 13 mal editiert, zuletzt von „Grizzly“ ()

      Da sind sie wieder, die 2 Seiten der selben Medaille.
      Die einen sind die wirklich Schutzbedürftigen, die anderen die
      Wirtschaftsflüchtlinge oder "Traumjäger". Durch die Erfahrungen
      der Fluchtbewegung aus der DDR hat der "Osten" ganz feine
      Antennen für diesen Unterschied. Wenn dann entsprechende
      Warnungen aus der Bevölkerung kommen wird dies all zu schnell
      als rechte Propaganda abgelehnt. Möchte liebend gern erfahren, welche
      Hintergründe es dafür gibt. Dieser überall in meinem Arbeitsumfeld
      herumgeisternde Begriff der "Umvolkung" (Gera halt :/ ) erscheint mir
      dafür aber etwas zu plumb.
      Wenn am Abend noch das Feuer brennt hat der Schmied den Feierabend verpennt.
      Die "Umvolkungstheorie" ist natürlich rassistisch und paranoid. Hintergründe sind die Fluchtursachen Krieg und wirtschaftliche Not, die sich nicht auseinander halten lassen, beides ist als Fluchtgrund vollkommen gerechtfertigt. Verschärft wird die Lage durch die unbestreitbare Klimaerwärmung, was mehr Kriege und mehr Flucht verursachen wird bzw. schon verursacht. Überspitzt gesagt, haben die Hiesigen die Wahl: Unbegrenzt Geflüchtete aufnehmen (ohne langes Herumfragen warum und wieso) - oder Auto abmelden, Führerschein abgeben und vegan leben.
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      - Kurt Tucholsky -
      Letztendlich wird es wohl so sein : Auto abmelden, Führerschein abgeben, vegan leben, Heizung nur noch für
      einen Raum, Strom nur noch für Stunden..dazu braucht es keine Greta, sondern das ist ein folgerichtiges Ergebnis
      der neuen industriellen Revolution 4.0. Da gibt es für 30% der Bevölkerung (auch bei weiterem demografischen Wandel)
      Arbeit für die Mehrheit der Bevölkerung nur noch als sporadische Jobs mit grottenschlechter Bezahlung. Nur die
      Verteuerung von Energie in jeglicher Form macht obige Allgemeinplätze schon zum Luxusgut. Allein aus diesem Grund
      wird der Pool der "Migranten" zum nützlichen Blitzableiter für die begründete Wut auf die neokonservative Kapitalismus-
      strategie der Führungseliten.
      Mein Tip: verschlechtern sich die Lebensverhältnisse bei uns kommen auch weniger Migranten
      Allein der Unterschied Ost/West hat viele Migranten (die keine Residenzpflicht haben) bewogen, den Wohnsitz aus den
      "Neuen " in die "Alten" Bundesländer zu verlegen. Wobei ich Berlin schon als "Westen" betrachte.
      Aber mir geht immer ein Satz durch den Kopf. Den hat ein ehemaliger Arbeitskollege (Igor-ein kasachischer Spätaussiedler)
      mal zu mir gesagt: Ach Frank..Geld ist nicht alles. :handreich: (Den russischen Akzent kann ich leider nicht schriftlich umsetzen).
      Wenn am Abend noch das Feuer brennt hat der Schmied den Feierabend verpennt.
      Apropo vegan leben.....
      Das wird bei einem weiteren Weltbevölkerungswachstum nicht ausreichen.
      Es gibt einfach zu wenig Ackerfläche um umweltverträglich ausreichend
      vegane Lebensmittel bereit zu stellen.
      Da bleibt nur eins: Fütterung der Menschen mit nicht artgerechten Komponenten.
      Die Lebensmittelchemie läßt grüßen :staun:

      n-tv.de/mediathek/videos/wisse…lver-article21457580.html
      Wenn am Abend noch das Feuer brennt hat der Schmied den Feierabend verpennt.
      Norderstedt, Februar 2020

      Zwischen Obdachlosigkeit und "Behaustheit" gibt es fliessende Unterschiede. Und in unserer TAS ("Tagesaufenthaltsstätte für Wohnungslose") wird danach nicht gefragt, sondern es sind alle willkommen. "Richtig" Obdachlose, die draussen schlafen, manche sogar im Winter, andere, die ein Bett im Winternotprogramm haben, solche mit Zimmerchen in einer der Notwohnungen, oder solche die über eine kleine Wohnung, aber auch nur über eine kleine Rente verfügen.
      Die alle treffen sich in der TAS (mehr dazu: diakonie-hhsh.de/tas-norderstedt/), trinken Wasser, Kaffee usw. (Alkohol ist nicht erlaubt), können duschen oder Kleidung wechseln, haben eine Postadresse, können sich sozial beraten lassen und kriegen Frühstück und Mittagessen. Letzteres darf auch ich während meiner Arztsprechstunden zweimal im Monat geniessen. Es kommt schon mal vor, dass ich nicht als Arzt erkannt werde: "Oh, Du bist ein Doktor. Ich dachte, Du wärst einer von uns ..."
      Auch Obdachlosigkeit sieht man einem Menschen nicht unbedingt an.

      Viele Betroffene haben ihr Heim und ihre soziale Sicherheit durch Schicksalschläge verloren, Tod der Partnerin, Scheidung, Verlust des Arbeitsplatzes usw. Abhängigkeiten v.a. von Alkohol sind dann oft die Folge. Der Gesundheitszustand der Menschen ist dann oft wesentlich schlechter als der von gleichaltrigen "Normalen", und ein Sterbealter von unter 60 Jahren ist nicht selten. In der TAS erfährt man oft nur durch Gerüchte, dass wieder einer gestorben ist, manchmal taucht einer auch wieder auch, das sind die glücklicheren (und leider die selteneren) Fälle. Ansonsten hat die TAS-Betreuerin vielleicht in Erfahrung gebracht, dass jemand gestorben ist, aber nicht wie, wo und ob es ein Grab gibt.
      Dieser Tage wurde ich gebeten, in einem solchen Fall nachzuforschen. Ich kann bei der Rettungsleitstelle nachfragen oder beim Bestatter (in Norderstedt haben wir nur drei, in Hamburg würde das schwieriger). Und beim ersten werde ich auch schon fündig.

      Offensichtlich ist der Mann von seiner nur noch eingeschränkt handlungsfähigen Mutter tot aufgefunden worden. Der Rettungsdienst konnte ihm auch nicht mehr helfen, so kam der Bestatter. Immerhin passierte das nur einige Stunden nach dem Tod des Betroffenen - ich habe schon erlebt, dass jemand to vor dem laufenden Fernseher saß, und die aufgeschlagene Zeitung zeigte das Datum von vor 14 Tagen.
      Jetzt gibt es einen Konflikt zwischen dem Amt, der anscheinend hilflosen und zahlungsunfähigen Mutter und dem Bestatter, wer die Beerdigung zahlt. Und bis das nicht geklärt ist, bleibt der Verstorbene beim Bestatter "in der Kühlung". Immerhin wissen wir jetzt, wo er ist, und die Bekannten in der TAS können benachrichtigt werden, wann die Beerdigung stattfindet. Es kam schon vor, dass niemand etwas erfuhr, und die Asche eines Verstorbenen auf einem anonymen Grabfeld verstreut wurde. Das wird hier so nicht passieren.


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      - Kurt Tucholsky -

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      Flüchtlings-Erstaufnahme Nostorf-Horst/Mecklenburg, 23.2.2020

      Ich war eine Weile nicht mehr hier, da dem Flüchtlingsrat Hamburg inzwischen der Zugang auch zum Aussenbereich des Lagers verweigert wird (einschliesslich Toilette, siehe letztes Tagebuch). Anlässlich einer Mahnwache von "Pro Bleiberecht" haben wir uns doch mal wieder vor dem Lager getroffen. Es herrscht trotz Nieselregens ein reges Treiben vor den Infozelten, es gibt Kaffee, Kuchen und heisse Suppe. Gesammelte Hilfsmittel werden verteilt, untermalt von lauter kurdischer Musik. Nebenher erfahren wir, dass länger kein Arzt mehr hier war, und die Krankenschwester vor Ort kriegt anscheinend nichts geregelt, oder sie darf es nicht. Jedenfalls spricht uns eine Frau an, sie habe schwere Depressionen und in drei Wochen, in denen sie hier ist, keine Medikamente bekommen. Kann die Medikamentennamen auch benennen. Mein Psychiatrie-erfahrener Kollege setzt ein Attest auf, wonach die Frau dringend einem Psychiater vorgestellt werden muss und zeitnah Medikamente braucht. Ein bisschen was hab ich im Kofferraum, wir einigen uns nach einem längeren Gespräch darauf, ihr eine Wochendosis da zu lassen, nachdem wir die möglichen Komplikationen abgekärt haben.
      Dieses Lager ist eine Katastrophe, es wird Zeit, dass die Landesregierung es schliesst. Woanders ist aktuell genug Platz.
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